Gerechtigkeitssinn und Querulantentum

Senioren mit Fahrradhelm, schwarzweiß

Der Wunsch nach maximaler Absicherung in allen Lebenslagen, ist uns Deutschen nicht fremd. © Joannis Nicolas under cc

Andere Nationen und Kulturen mögen die Freiheit mehr in den Fokus stellen und wilder einfordern, wenn es denn stimmt, aber ausgerechnet uns Deutschen vorzuwerfen, dass wir zu brav und friedlich sind, ist angesichts unserer nicht immer ruhmreichen Geschichte ein etwas merkwürdiger Vorwurf. Götz Aly begeht diesen Fehler nicht, wenn er schreibt:

„Zur missverstandenen Gleichheit fügten deutsche Nationalrevolutionäre seit Anbeginn ihr merkwürdig kollektivistisches Verständnis von Freiheit. Schon den Krieg gegen die napoleonische Besatzung nannten sie Freiheitskrieg. Das heißt, viele von ihnen fassten Freiheit nicht als individuelle Möglichkeit, als Ansporn für jeden Einzelnen auf, sondern als Abgrenzungsbegriff, gerichtet gegen tatsächliche oder vermeintliche Feinde.“[2]

Das ist eine andere Kritik, eine, die die Angst beschreibt, ein individuelles Leben jenseits der Gruppenzugehörigkeit zu leben. Ein reifer Individualismus ist durchaus kein Rückfall in den präkonventionellen Egoismus, sondern beschreibt eine reife, postkonventionelle Haltung, in der man eine eigene Identität aufbaut, aber nationale, familiäre, regionale Identitäten mit einbaut und ohne, dass einem andere vollkommen egal wären.

Doch um der Wahrheit gerecht zu werden, längst nicht alle Deutschen sind so, und eine Fokussierung auf das Kollektiv bedeutet auch eine Fokussierung auf Gerechtigkeit, wenn auch vielleicht nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Denn Gefolgschaft und Gerechtigkeit kann ebenfalls eigene Blüten treiben. Nicht alle sind schön, wie etwa der Opportunismus, der jedoch ebenfalls seine Spielarten kennt. Auch wenn man den Wert von Alys Kritik anerkennt, so ist Gerechtigkeit ebenfalls etwas, was innerhalb des Systems, auf das man sich verpflichtet hat, ein Korrektiv darstellt. So wie der von der Gemeinschaft überzeugte und mit ihr identifizierte, kann er bei empfundener Ungerechtigkeit auch zum einsamen und keineswegs angstbesetzten Kämpfer gegen das System werden.

Vielleicht gibt es eine insgesamt kühlere deutsche Art dies zu tun (auch das ist nicht sicher, wie wir gleich sehen werden), doch sie ist nicht weniger intensiv. Und so ist es gewiss kein Zufall, dass dort wo Gehorsam verlangt wird, auch der Wesenszug des Querulanten zum Vorschein kommt. Der Querulant hat die Spielregeln der Gesellschaft verinnerlicht und ist bereit, sie treu zu erfüllen, aber wehe dem das System verhält sich ihm gegenüber tatsächlich oder seiner Empfindung nach ungerecht. Da wird der treue Diener von einst zum gefürchteten Gegner, der zu allem bereit ist. Seine kaum vorhandene Aussicht auf juristischen Erfolg stört ihn nicht, ihm geht es ums Prinzip und die von ihm empfundene Vorstellung von Gerechtigkeit und er ist bereit, durch alle Instanzen zu klagen und jede nur erdenkliche Schwierigkeit auf sich zu nehmen.

Querulanten sind überzeugt davon, im Recht zu sein und gewillt Recht zu bekommen, koste es, was es wolle. Sie werden zumeist der paranoiden Gruppe zugerechnet, neuerdings wird diese starre Zuordnung etwas gelockert. Querulanten tragen heute gerne mal den Namen Whistleblower und sind Menschen, die unter der empfundenen Doppelmoral des Systems, dem sie sich ursprünglich verschrieben haben, leiden. Ihnen geht es um Gerechtigkeit und so bereitswillig sie sich einem System verschreiben, von dem sie überzeugt sind, so bereitwillig kritisieren und bekämpfen sie es, wenn ihre Vorstellung von Gerechtigkeit verletzt ist. So ist es ein und derselbe Untertanengeist, der blinden Gehorsam, Opportunismus und Querulantenutm hervorbringt und nicht zufällig wurden die Querulanten von den Nazis keinesfalls geschätzt.

Das durchaus heiße Blut wird hier vielleicht typisch deutsch durchs System gepumpt und erkaltet mituntern in den Bypässen der Bürokratie, doch den Querulanten im Dienste von Wahrheit und Gerechtigkeit irritiert das in keiner Weise. So wird dieser eigenwillige Gerechtigkeitssinn auch Michael Kohlhaas Syndrom genannt, nach der Novelle von Heinrich von Kleist Michael Kohlhaas, der ein historischer Hans Kohlhase zugrunde liegt. Ein Geist, der ebenfalls durch die deutsche Geschichte weht und dem Angst eher fremd ist.

Furor Teutonicus

Wenn wir in der Geschichte noch weiter zurück gehen, dann stoßen wir auf den Furor Teutonicus, eine unbezwingbare Wildheit oder Raserei der germanische Stämme, die die kampferprobten und gut organisierten Römer das Fürchten lehrte. Sind sie in Wirklichkeit so, die Deutschen?

Auch zur teutonischen Raserei gibt es einen Gegenpol. Kaum einem anderen Land sagt man nach, dass seine Einwohner so methodisch und organisiert vorgehen, wie den Deutschen. Wilde Impulsivität bringen wir pauschal eher mit „Südländern“ in Verbindung, dem europäischen Norden wird eine gewisse Kühle und Distanziertheit von Affekten nachgesagt. Doch denkt man an die Wikinger, die auch als die „Terroristen“ des Mittelalters bezeichnet wurden, kann man auch keine Ähnlichkeit mit den heutigen kühlen, fairen und friedlichen Skandinaviern mehr entdecken, wohingegen man den südländischen Portugiesen eine tiefe Melancholie nachsagt, die sich im Fado, dem landestypischen Musikstil, ausdrückt.

Und so, wie man Gefühle auch methodisch und gut organisiert durchdrücken kann, kann das durchaus auch affektiv milder gestimmten Kulturen gelingen. Der besondere Schrecken des Holocaust liegt vor allem in der kühlen Planmäßigkeit, mit der man seine Projektionen und projektiven Identifikationen agieren konnte, regressive und abgespaltene Gefühle. Als Deutscher ist man mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise verbunden, schon deshalb, weil man ihn entweder als besondere Schmach und Schuld ansieht oder ärgerlich darauf pocht, nun müsse auch endlich mal gut sein mit dem Thema.

„Vamik Volkan (1999) hat dargelegt, wie nationale Identität schon früh in die individuelle Ich-Identität durch Sprache, Kunst, Sitten und Gebräuche, Speisen und vor allem transgenerationale Weitergabe von Narrativen historischer Triumphe und Traumata als Teil eines gemeinsamen Kulturguts eingewoben wird.“[3]

Und man beginnt gerade erst zu begreifen, wie schmerzlich und traumatisierend die vielfache Unmöglichkeit, über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu reden, für die Eltern und Groß- und Urgroßeltern war, gerade auch für viele deutsche Kriegsteilnehmer und deren Familien. Die Nichtweitergabe macht einen also auch nicht frei, sondern bindet als Leerstelle oft sogar besonders. Und damit zu einer vielleicht doch noch spezifischen German Angst.