Um abzuwägen, ob Lernen ohne Leistungsdruck in der Schule überhaupt möglich ist, sollte man sich zunächst vor Augen führen, wie natürliches Lernen erfolgt. Vor diesem Hintergrund ließe sich dann auch die derzeitige Situation von Schülern an deutschen Schulen überdenken.

Die Praxis: Lebenslang oder Lernzwang?

Kommen Babys auf die Welt, scheinen sie mühelos jeden Tag Neues zu erlernen, ganz ohne Leistungsdruck, ohne dass es eines Anstoßes bedarf. Und selbst der kühnste Verfechter von leistungsbezogenem Lernen wird Babys und Kleinkindern das eigene Lerntempo beziehungsweise die eigene Entwicklungsgeschwindigkeit zugestehen.

Auch im Laufe des Lebens wird es immer wieder Situationen geben, in denen man sich anpassen muss, etwas lernen muss: sei es aufgrund eines neuen Jobs, eines neuen Wohnumfeldes oder ähnlichem. Man selbst wägt ab, erkennt die Notwendigkeit einer Änderung und reagiert entsprechend. Warum?

Warum wir lernen: Die Evolution

Aufrechter Gang

Evolutionsbiologische Sicht: Lernen ohne Leistungsdruck durch Bedeutsamkeit © Kevin Dooley under cc

James Zull, Professor für Biochemie und Biologie an der Case Western Reserve University in Cleveland, erklärt in seinem Buch „THE ART OF CHANGING THE BRAIN“ anschaulich die Biologie des Lernens. Demnach ist unser Gehirn auf Überleben programmiert. Jeder Organismus versucht um des Überlebens willens die Kontrolle zu behalten, so ergeht es selbst dem kleinsten, sich windenden Wurm an einem Angelhaken. Zudem, so Zull, will jeder Organismus im Gleichgewicht sein, zufrieden und ohne Angst. Um diesen Zustand möglichst aufrechtzuerhalten, greift das Gehirn: Wir überleben durch Nachdenken, Planen, Abwägen und Entscheiden.

Aus evolutionsbiologischer Sicht darf Lernen also als ein natürlicher Prozess verstanden werden. Was wichtig zum Überleben erscheint, lernen wir – ganz ohne extern getriggerten Leistungsdruck. Stattdessen geht es, so Zull, um eine im Organismus innewohnende „Einsicht„, da das Gehirn, unter anderem der Neocortex und das Limbische System, seit Millionen von Jahren gewohnt ist, sachlich und emotional abzuwägen, was bedeutsam ist.

Warum wir lernen: Hirnforschung heute

Vorhang auf für das Gehirn

Hirnforschung: Lernen ohne Leistungsdruck durch Begeisterung © Humphrey King under cc

Gemäß Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen, kommt jedes Kind mit einzigartigen Vernetzungen im Gehirn auf die Welt, welche sich vorgeburtlich anhand aus dem Körper kommender Signalmuster entwickelt haben (Hüther & Hauser, 2012). Aus der Hirnforschung weiß man, so erklärt Hüther in seinem Buch „Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen“, dass eine Nichtnutzung dieses Potentials zu einem Abbau der Vernetzungen führt. Optimum wäre demnach, die von der Natur aus zur Verfügung gestellte individuelle Komplexität des Gehirns möglichst aufrechtzuerhalten, um daran neue Lerninhalte anzuknüpfen.

Lernen ohne Leistungsdruck durch natürliche Begeisterungsfähigkeit

Notwendig für nachhaltiges Lernen wäre gemäß Hüther eine Aktivierung der emotionalen Zentren im Gehirn. In diesen werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, welche das Anwachsen neuer Verknüpfungen im Gehirn unterstützen. Statt Lernzwang scheint also Lernen ohne Leistungsdruck von Vorteil zu sein; Begeisterung und Neugier des Kindes sollten erhalten bleiben.
Folgt man Hüthers Sicht, so wäre es überaus kontraproduktiv das Kind unter Leistungsdruck zum Lernen von beispielsweise Mathematik zu zwingen, da die Kinder dann nur lernen, um den Druck wieder loszuwerden, ohne dass das Wissen langfristig im Gehirn gefestigt wird. Die Ansichten der Hirnforschung zum besseren Lernen ohne Leistungsdruck decken sich mit Beobachtungen, wonach ein Großteil des geforderten Gelernten bereits nach der Prüfung wieder vergessen wird. (Erinnern Sie sich noch an Integralrechnung?)
Auch einige Lehrer sind sich darüber durchaus bewusst: So beklagt Jan-Martin Klinge, seines Zeichens Physiklehrer, dass kaum ein Schüler die in den Lehrplänen verankerten Inhalte im späteren Leben benötigt. Stattdessen würde er den Unterricht lieber freier gestalten, die Begeisterung der Schüler durch Praxisbezogenheit wecken.

Von Geburt an lernen Kinder ganz ohne Leistungsdruck Dinge, die sie begeistern und die sie von sich aus für bedeutsam halten. Demnach lernen sie also frei und individuell. Gepaart mit der evolutionsbiologischen Sicht, dass Organismen überleben wollen, täten wir womöglich gut daran, unseren Kindern zu vertrauen, dass sie das von der Natur aus mitgegebene Entwicklungspotential nutzen und ihren eigenen Weg gehen werden. Zwangloser gestaltetes Lernen in Schulen, vielleicht sogar grundsätzlich freies Lernen ohne Leistungsdruck und schulische Auflagen, könnte sie dabei unterstützen – bereits existierende Modelle werden in Teil drei unserer Serie vorgestellt.

Quellen: