Ein Ereignis und seine Interpretation

Frühmenschen jagen mit Speeren Tiger

Überleben und Fortpflanzen. Urtriebe, die noch in uns sind. © Ben Sutherland under cc

Das regressive Ereignis selbst ist die eine Geschichte, die andere ist seine Verarbeitung. Ein Element was im Grunde für alle Erfahrungen des Lebens gilt nur bei extremen, existentiellen und außergewöhnlichen Erfahrungen wird uns all das noch viel stärker bewusst. Wenn wir einkaufen gehen, ist das für unser Weltbild keine Herausforderung die mit unserem Weltbild kollidiert, wenn wir entführt werden, eine schlimme Diagnose bekommen oder eine spirituelle Erfahrung machen, schon eher. Das Weltbild ist es, was es uns erlaubt einzelne Ereignisse in einen Gesamtkontext einzubetten – oder diesem eben krass widerspricht.

Dann wird das Ereignis selbst zum Testfall für das Weltbild und es besteht die Möglichkeit, dass das Weltbild unter dem Eindruck eines überwältigenden Erlebnisses – oder einer Menge kleinerer Ungereimtheiten – revidiert wird.

Doch hier soll es nicht um das regressive Ereignis gehen, sondern darum, dass, je nach äußerem Bedarf und Anpassung man tatsächlich noch in diesem Weltbild von Überleben und Fortpflanzen als wichtigsten Modi leben kann. Dass erscheint primitiv und ist es auch nach Don Beck, einem der Begründer von Spiral Dynamics. Aber primitiv im Sinne von grundlegend, primär, nicht im abwertenden Sinne von schlicht und überholt.[2]

Zum ersten Weltbild das Menschen hatten gehörte die Fähigkeit ein geradezu unheimliches anmutendes Gedächtnis für Wasserreservoirs zu entwickeln und erfolgreich Nahrung und Schutz zu finden, Leistungen, die uns heute nicht mehr sonderlich beeindrucken, doch wir müssen unser Bild vom primitiven Steinzeitmenschen eventuell etwas revidieren. Der Geschichtsprofessor Yuval Noah Harari schreibt dazu, in Eine kurze Geschichte der Menschheit, dass wir als Kollektiv heute ungleich mehr wissen, als die Menschen damals. „Aber für sich genommen, waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte. Wir wissen heute, dass das durchschnittliche Sapiens-Gehirn seit Beginn der landwirtschaftliche Revolution geschrumpft ist.“[3] Die Menschen damals waren, so Harari, unglaublich fit und geschickt, leise und effizient und mit scharfen Sinnen ausgezeichnet.

Menschen die einen Flugzeugabsturz überlebt haben und irgendwo auf einer Insel strandeten berichten manchmal davon, dass sozusagen über Nacht ihre Sinne schärfer und klarer wurden. In der Not scheint der Überlebensmodus bei uns allen aktiviert werden zu können. Seit langer Zeit wird diskutiert inwieweit der Mensch eher ein biologisches oder kulturelles Wesen ist. Nahrung und Sexualität sind schöne Themen, um das Verhältnis von biologischem Nutzen und sozialer Komponente ein weiteres mal zu verdeutlichen.

Überleben und Fortpflanzen in der Sackgasse

Wer glaubt, der Mensch sei im Grunde noch immer und primär ein biologisches Triebwesen und die sozialen Errungenschaften lediglich Ausdruck dieser Triebe, der sollte sich fragen, wie noch die stärksten Überlebenstriebe – durch Bulimikerinnen und terroristische Selbstmordattentäter mit Leichtigkeit, weil ihre geistigen Ideale andere sind und das eigene Überleben dabei nachrangig wird – ausgehebelt werden können.

Und das ist nicht alles, beim Sexualtrieb sieht die Situation noch dramatischer aus: Warum macht Sex eigentlich Spaß? Evolutionsbiologisch könnte man argumentieren, damit wir uns gerne fortpflanzen und das tüchtig tun. Wenn die Fähigkeit sich lustvoll erregen zu können einen Nutzen haben soll, dann den, denn ein anderes Ziel als weiteres Leben zu erzeugen hat die Evolution, nach Überzeugung ihrer Interpreten, nicht.

Doch längst ist die lustvolle Sexualität keine Unterabteilung der Fortpflanzung mehr, sondern Fortpflanzung ist ein gelegentliches Ereignis das im Rahmen von Sexualität auftreten kann, aber nicht muss. Masturbation, homosexuelle, aber auch die meisten heterosexuellen Begegnungen haben gar nicht das Ziel Nachkommen in die Welt zu setzen, sondern einfach Lust zu erzeugen, sich zu entspannen und zu befriedigen.

Gundlegend und bedeutsam

Das wirft Fragen auf, Fragen danach, wie „der Mensch“ denn nun funktioniert. Wenngleich selbst die stärksten Triebe nicht alles und vor allem von der Motivation her nicht alldominierend sind, so bekommt man sie doch auch nicht aus dem Leben und den Erklärungen, warum wir sind, wie wir sind, verbannt. Wer es „schafft“ sich von einigen seiner Triebe komplett abzuschneiden, der ist einfach neurotisch.

Was also, ist eigentlich das, was zählt? Und in welcher Reihenfolge? „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, heißt es bei Bertolt Brecht, da ist die Reihenfolge klar, aber wir sahen, dass das nicht immer gilt. In Eros, Kosmos, Logos – Eine Jahrtausendvision trifft der US-amerikanische Bewusstseinsforscher Ken Wilber die Unterscheidung zwischen grundlegend und bedeutsam. Das Verhältnis der beiden ist wie folgt: Je grundlegender, desto weniger bedeutsam; je bedeutsamer, desto grundlegend und überlebenswichtig. Komplexe Eindrücke in einem Gedicht zu konzentrieren ist ein bedeutsamer Akt, aber nicht überlebenswichtig. Nahrung und Schutz zu finden und sich fortzupflanzen, ist von grundlegender Wichtigkeit für das Überleben unserer Spezies, aber den meisten Menschen ist das für ihr Leben nicht genug.

Wir reden von Ehre, Anerkennung, Stolz, wollen unseren sozialen Status erhöhen, ein glückliches, aber auch gelungenes Leben führen, eine Auto und Haus und einen Highspeed Internetanschluss haben, satt und sicher zu sein mit der Möglichkeit sich fortzupflanzen reicht uns heute hinten und vorne nicht mehr aus. Müssen wir also wieder bescheidener werden, back to the roots? Oder brauchen wir mehr und effektiveren Fortschritt? Und wie funktionieren wir nun wirklich?

Wir werden uns an eine Antwort herantasten und sie wird lauten, dass wir in ziemlich verschiedenen Welten leben und gut dran sind, wenn es uns gelingt die Welt des anderen zu verstehen. Überleben und Fortpflanzen sind die ersten Schritte auf dem langen Weg zu dem, was uns ausmacht und dem, was uns möglicherweise noch erwartet.

Quellen:

[1] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta /J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (2000), S.298

[2] http://www.zen-akademie.org/cover/don_beck_interview_WIE8.pdf

[3] Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt (2013), S.68f

[4] Ken Wilber, Eros, Kosmos, Logos: Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Krüger (1996), S.90f