biopsychosozial

Das Phänomen Schmerz ist kein rein biomedizinisches, sondern biopsychosozialer Natur. Das heißt, dass der Schmerz einen biologischen Anteil hat, der sehr gut erforscht ist. Physische Traumata, Entzündungsreaktionen, Oprerationen, Schmerzmediatoren und ihre Regelkreise, die sich verstärken oder hemmen können und die man medikamentös, mal mehr, mal weniger gut, beeinflussen kann. Gleichzeitig aber auch einen sozialen oder kulturellen Anteil. In einer Kultur in der es dazugehört, das Leiden demonstrativ zu zeigen ist die Ausprägung des Schmerzes eine völlig andere, als in Kulturen, in denen es zum guten Ton gehört, sich niemals Schmerzempfindungen anmerken zu lassen.[4] Wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, dass in beiden Fällen der Schmerz gleich empfunden wird, nur einmal demonstrativ gezeigt und ein anderes Mal nicht, sondern auch die soziokulturelle Behandlung des Schmerzes beeinflusst das Schmerzerleben. Die Biologie ist nicht alldominierend, sondern ein Teil des biopsychosozialen Konstruktes.

Zwischen den kulturellen Extremen gibt es viele Abstufungen und Zwischenformen. Unterschiedlich von Kultur zu Kultur und dann noch einmal innerhalb der Kultur, zum Beispiel geprägt durch eine familiäre Eigenart, die festlegt, wie man mit Schmerzen umgeht. Schließlich kommt der individuelle Aspekt ins Spiel. Natürlich immer gemischt mit der Biologie, etwa der angeborenen Affektdisposition, auch der Toleranz gegen Schmerzreize. Doch das ist längst nicht alles, sondern Schmerzen existieren in diesem Dreieck aus biologischen, soziokulturellen und psychologischen Aspekten, die sich wechselseitig beeinflussen. Man denke an das Phänomen der sozialen Wahrnehmung, das zeigt, dass soziale Muster bereits unser Erleben beeinflussen und nicht einfach eine nachträgliche Interpretation darstellen. Die individuelle Komponente des Schmerzes ist breit gefächert.

Schmerzen können eine Stellvertreterfunktion einnehmen, etwa beim sekundären Krankheitsgewinn oder wenn man keinen guten Zugang zu seinen Gefühlen oder Körperempfindungen hat. Bei Kindern kennen wir das noch, die fast immer Bauchweh haben. Wer Anerkennung und Beachtung nur erfährt, wenn er krank ist, kann immer dann Schmerzen verspüren, wenn er Beachtung braucht. Doch auch das sind noch alles sehr grobschlächtige Konzepte, die lediglich in eine Richtung weisen sollen. Depressionen; Hoffnungslosigkeit bis zur Verzweiflung; verinnerlichte Glaubenssätze, dass mir ohnehin niemand helfen kann; heimliche Verbote, glücklich und gesund zu sein; Befürchtungen, dass man positive Erlebnisse bitter bezahlen muss, bis hin zu einer Lust an der Unheilbarkeit und dem heimlichen Triumph, eine Koryphäe nach der anderen über die Klinge springen zu lassen, da ist ein extrem breites Spektrum und jede Menge zu holen.

Chronische Schmerzen und Weltbilder

Eisenbahngleis, rundverzerrt

Manchmal ist unser Blick in die Welt verändert und verzerrt. © Kevin Dooley under cc

Ich definiere Weltbilder als die Summe der gegenwärtigen, dynamischen, bewussten und unbewussten Einstellungen darüber, wie die Welt und die Beziehungen ihrer Bewohner untereinander funktioniert.
Weltbilder können mit pathologischen Verzerrungen korrelieren, müssen es aber nicht. Wie Schmerzen haben auch Weltbilder eine soziokulturelle (von Kultur und Familie übernommen) und individuelle (auf eigenen Erfahrungen beruhende und reflexive) Komponente und natürlich sind auch hier biologisch Aspekte eingebunden. Die Bedeutung der Weltbilder im Rahmen von Krankheiten ist, wie folgt:

Auf die Spitze getrieben, gibt es zwei Sichtweisen. Zum einen kann man mit einigem Recht sagen, dass jeder Mensch ein Mensch ist, was fraglos stimmt, nur hilft uns das nicht. Es ist eine zu grobe, zu allgemeine Einteilung, bei der Individuelles verwischt. Im anderen Extrem ist jeder Mensch ein Individuum, was ebenfalls stimmt, nur hilft uns auch das nicht, wenn es heißen soll, dass ein Mensch so individuell ist, dass man ihn mit einem anderen überhaupt nicht mehr vergleichen kann. Die Betrachtung ist zu kleinteilig, es fehlen die Gemeinsamkeiten. Was wir also brauchen, ist ein Instrumentarium, das es uns ermöglicht, Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten Menschen zu finden und gleichzeitg wesentliche Unterschiede zu anderen Individuen. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen die Weltbilder sein, ein Grund dafür, warum wir sie hier so ausführlich vorgestellt haben.

Beispiele

Es gibt Menschen, die, wenn sie krank sind, über ihre Krankheit und die therapeutischen Möglichkeiten genau informiert sein wollen und beanspruchen, mit dem Arzt auf Augenhöhe zu sprechen. Hier ist der Patient gleichberechtigter Partner, der Arzt oder Therapeut ein spezialisierter Dienstleistender.

Andere Menschen haben die Einstellung, dass der Arzt alles viel besser weiß als sie und wollen gar nicht genau informiert sein. „Machen Sie was Sie wollen, Hauptsache es hilft“, sagen sie und geben die Verantwortung ein Stück weit ab, aber haben natürlich einen Bonus beim Vertrauen.

Es gibt Menschen, die fest in einem religiösen Weltbild verwurzelt sind und aus diesem auch auf ihre Schmerzen blicken. Chronische Schmerzen könnten hier als eine Aufgabe, Herausforderung, manchmal sogar als Auszeichnung betrachtet werden.[5]

Auf der anderen Seite findet man Atheisten, die kein Stück weit an einen religiösen Sinn von Schmerzen glauben und die im Schmerz eine reine Fehlfunktion sehen.

Man findet Anhänger von naturheilkundlichen Verfahren, die mit der modernen Apparatemedizin, wie sie manchmal genannt wird, ihre Schwierigkeiten haben und lieber natürlich behandelt werden möchten.

Wiederum gibt es Menschen, die sich gerade von den Errungenschaften der modernen Medizin und neuesten Forschungsansätzen besonders viel versprechen.

Wenige und notgedrungen oberflächlich skizzierte Beispiele, die von selbst die Frage aufwerfen: Was stimmt denn nun?