Glauben und Wissen

Meerjungfrauen und Männer im Meer

Mischwesen haben die Phantasie stets beflügelt. Photo taken by Cybershot800i under gemeinfrei

Ein ähnlich schroffer Gegensatz wie zwischen Realität und Phantasie wird oft auch zwischen Glauben und Wissen gezogen. Dabei schwingt beim Glauben oft noch eine religiöse Komponente mit, doch eigentlich geht es nur um die Überzeugungen, die jemand hat. Diese Überzeugungen sind eigentlich selten vollkommen daneben, sondern meistens ein Resultat aus Prägungen und darauf aufbauenden eigenen Erfahrungen, die sich wechselseitig verstärken. Dass ganz andere Denksysteme jedoch ebenso ihre Berechtigung und innere Folgerichtigkeit haben, erkennen diejenigen nicht, die nur auf die innere Folgerichtigkeit ihrer Art die Welt zu sehen pochen. Doch das eine schließt das andere nicht aus.

Es gibt einen Trend, der gerade im Begriff ist zu kippen, den, dass es nur eine einzige richtige Sicht gibt, die Welt zu betrachten und zwar durch die Brille der Naturwissenschaften. Allein hier fände und arbeite man mit wahrem Wissen, Fakten, Tatsachen und dergleichen, der Rest sei ohnehin nur Glaube. Wir kritisierten diese Lesart bereits hier und hier, so dass ich darauf verweise. Wir haben eine gewisse Armut an Weltbildern und es scheint manchmal nur die Alternative zu bleiben, die Welt entweder real und durch die Brille der Wissenschaft zu sehen oder irgendwie religiös zu verklären. Andere Lesarten kommen uns kaum in den Sinn, die normativer Natur sind oder radikaler mit unseren Gewohnheiten brechen. Aus psychodynamischen Therapieformen ist längst bekannt, dass der Verweis auf „die Realität“ und wie sie ist bei einem Patienten im Grunde nicht viel bringt.

Natürlich, Eckpfeiler ist auch hier die Realitätsprüfung. Therapie im engeren Sinne ist im Augenblick der psychotischen Episode kaum oder gar nicht möglich, aber auch wenn keine Psychose vorliegt kann ein Mensch die Welt sehr verzerrt wahrnehmen, im Vergleich zu anderen Menschen, aber das ist nun mal seine Art die Dinge zu sehen. Es mag Gründe dafür geben und verschiedene Konzepte, die das in unterschiedlicher Weise aufgreifen und erklären, aber jemandem zu erläutern, dass alle anderen das aber anders sehen als er und der Betreffende sich folglich irren muss, ist therapeutisch weder zielführend noch effektiv.

Statt dessen fragt man, was es für den Menschen bedeutet die Welt so zu sehen, wie er sie sieht. Was heißt es für seine Beziehungen, seine Arbeit, seine Sicht auf die Welt und dann natürlich immer, für ihn? Man frisst sich sozusagen von Innen nach Außen, versucht gemeinsam diesen Menschen und seine Sicht auf die Welt (und was sie ausmacht, antreibt, verbindet und trennt) zu erkennen. So dass er sich selbst erkennt, zumindest besser kennen lernt. Die Selbsterkenntnis, die möglichst komplette Sicht auf andere Menschen und damit auch die Abweichung von diesen ist noch immer eines der Hauptelemente der Psychotherapie. Man kann sich und zur Not anderen erklären, warum man ist, wie man ist und entspricht so dem Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen, was uns ausmacht.

Bilder und Argumente

Und doch ist das nicht alles. Therapeutische Bestrebungen die die rationalen Aspekte weniger in der Vordergrund rückten und oft mit Bildern und Symbolen arbeiteten standen schon an der Wiege der Psychoanalyse. Der avisierte Kronprinz Carl Gustav Jung schlug diese Richtung ein prägte klassische Begriffe wie Archetypus oder Schatten, auch wenn es heute eher wenige explizite Therapieformen nach Jung gibt.

Doch nach wie vor gab und gibt es Therapien und Methoden, die auf die Kraft der inneren Bilder setzen oder Verfahren wie EMDR kommen auf, die den Intellekt fast ganz umgehen. Doch eine Entscheidung und damit ein Verwerfen der anderen Ansätze ist oft gar nicht nötig. So vereint die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie nach Luise Reddemann (hier in einem Radiointerview) stabilisierende, auf Mitgefühl, Einsicht und Stärkung der eigenen Ressourcen beruhende Ansätze mit imaginativen Elementen. Bilder und Argumente sind hier kein Gegensatz, so wenig wie Realität und Phantasie.

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte!?

Manchmal. Bilder sind stärker in der emotionalen Sphäre angesiedelt und umgehen manchmal langwierige Erklärungen. Man sieht es ja. Andererseits sprechen viele, im Zeitalter des Smartphone von einer Inflation der Bilder, der wir uns aussetzen. Alles immer schneller, immer kürzer, inklusive der Aufmerksamkeitsspanne. Was langweilig ist, wird weggeklickt. Die Bilder und Eindrücke rasen vorbei. Was taucht noch in uns auf, etwa wenn wir still werden? Oft ein Unwohlsein, eine Unruhe, die manche körperlich spüren. Langeweile, der Impuls sich abzulenken, durch Aktion oder Kommunikation. Aber ablenken wovon? Manchmal wissen wir es, oft nicht. Bilder mit denen wir heilen wollen, müssen eine andere Qualität oder Quantität haben.

Realität und Phantasie der Imaginationen

Irgendwann taucht, wenn wir innerlich und äußerlich still werden, ein Impuls auf, ein Gedanke, ein Bild. Und selbst wenn da gar nichts ist, kann man sich dieses „Nichts“ beschreiben lassen. Ist es kalt, dunkel, unheimlich oder behaglich? Ist es die Ruhe der Zurückgezogenheit oder ein Gefühl nagender Einsamkeit? Nur Bilder? Wer diese Welten bereist kann ungeheuerliche Erfahrungen machen, darum haben Schamanen, Magier und Mystiker es zu allen Zeiten getan.

Nur Bilder? Gewiss, aber sind immer die Bilder des Erlebenden, es ist seine innere Welt in die er eingebunden ist. Und erstaunlicherweise – oder eben auch nicht so erstaunlich – ist die Phantasiewelt, die jemand erlebt oft gar nicht so verschieden, von der Welt, die er sonst erlebt. Eine Erkenntnis von Freud. Obendrein ist auch die vermeintlich reale Welt durchsetzt von unseren Phantasien und Projektionen.

Noch mehr verwischt die Trennung, wenn man feststellt, wie stark innere Bilder, Vorstellungen, Phantasien an Emotionen und Körperempfindungen gebunden sein können. Die platonische Idee, dass die Welt nur eine Abbild einer geistigen Welt ist, ist immer auch eine Würdigung dieser Kraft der inneren Bilder und ihrer Realität. Nur Bilder? Man sage das mal jemandem, der unter Alpträumen leidet oder Flashbacks erlebt. Oder jemandem der spirituelle Erfahrungen auf der Ebene der reinen Archetypen erlebt hat. Das sind Bilder und Eindrücke, die man eventuell nie wieder vergisst. Man sage es jemandem, der bei einer Nahtoderfahrung seine Todesangst verloren hat.

Ob wir im Kino, auf einer Fete waren oder mit dem Chef gesprochen haben, niemals fangen wir an zu klären, ob das wirklich ein Kino war, ob der andere im Sitz neben uns tatsächlich denselben Film gesehen hat, wohl aber will man wisssen, wie der andere ihn empfunden hat. Diese simple Seite der gemeinschaftlich geteilten Realität setzen wir voraus. Wir überlegen statt dessen, wie der Chef diese oder jene Bemerkung wohl meinte, wie das Verhalten von jemandem auf der Party zu bewerten ist. Darum geht es uns, nicht ob da wirklich eine Party stattgefunden hat und ob es dort tatsächlich Nudelsalat und Bier gab (und natürlich eine Guacamole). Realität und Phantasie fließen in einander. Und so wie die Realität ganz sicher Auswirkungen auf die Phantasie hat, so hat andersrum auch die Phantasie Auswirkungen auf die Realität. Das ist keine Einbahnstraße.

So wenig verwunderlich es ist, dass jemand, der täglich Sport macht, Geige spielt oder mit mathematischen Formeln umgeht das besser beherrscht, als jene die das selten oder nie tun, sollte es auch nicht verwundern, dass man das Bildern erlernen und üben kann. Auch der Besuch innerer Welten kann zur Gewohnheit werden, schleift sich ein, hinterlässt Spuren wie ein Trampelpfad zwischen den Gebüschen, die man vielleicht noch aus der Kindheit kennt.