Die Kinder der 68er

Frau in rotem Kleid, vor Familienbaum, Grafik

Nicht nur die Gene werden weitergegeben, auch die ungelösten Konflikte. © vtdainfo under cc

Interessant war auch, was nun einsetzte. Wussten die 68er noch wogegen sie kämpften, konnten sich deren Kinder sozusagen ins gemachte Nest setzen. Ein Mangelempfinden wie es für die meisten ihrer Eltern noch obligatorisch war? Fehlanzeige. Die großen ideologischen Schlachten waren mehr odert weniger geschlagen, es waren Kinder, die in Zeiten aufwuchsen, die vielleicht seit sehr langer Zeit die besten waren und vermutlich auch für lange Zeit nicht wieder so gut sein werden. Natürlich, individuellen Schicksale gab es auch hier, aber nun konnten Biographien mit individuellen Schicksalsschlägen erstmalig Beachtung finden. Nicht, dass es die nicht auch vorher, vielleicht sogar auch weitaus größerem Umfang gegeben hätte, es hat nur niemanden interessiert.

Die schweren Schicksale und Missbrauchsfälle aus Heimen, die heute zum Teil aufgearbeitet werden, stammen zumeist aus den 1950er Jahren. Nun also wurden die Einzelschicksale, die früher still weinend, abspaltend, depressiv, trinkend oder sonst wie ertragen werden mussten, weil sie unter normal oder „sprich nicht drüber“ liefen auf einmal interessant – weil der Boden jetzt fruchtbar war. All die Jahre und vielleicht Jahrzehnte davor hatte man einfach auf die eine oder andere Art zu funktionieren. Wenn die soundsovielte Nacht in Folgen die Sirenen wegen der Fliegerangriffe ertönten und alle zusahen, dass sie möglichst schnell in den Bunker kamen, bevor die todbringenden Bomben fielen, dann war kein Platz zu fragen ob das auch kindgerecht oder der Biorhythmus irritiert ist. Und das soll keine spöttische Bemerkung sein.

Die Kinder der 68er lebten in einer anderen Welt. Hunger und Mangel an Wohnraum waren keine Themen mehr, die Mittelschicht wurde zusehens breiter und wohlhabender, nach dem Beruf des Vaters oder der Herkunft wurde allenfalls hinter vorgehaltener Hand gefragt. Es mangelte ihnen an wenig, sie wurden in eine freiere, wohlhabendere und vielfach liberalere Welt hineingeboren. Mit einem Wort, es könnte und sollte ihnen besser gehen, als vielen Generationen zuvor, doch auf einmal tritt ein sonderbares Phänomen auf. Gerade die Generation mit den vermeintlich besten Startbedingungen seit langem bekommt auf einmal Probleme mit dem
Leben, nicht selten psychischer Art. Angststörungen und Depressionen treten zum ersten Mal in einem größeren Stil ins Bewusstsein.

Es ist nach wie vor unklar, ob diese Störungen tatsächlich zugenommen haben, oder nur häufiger diagnostiziert werden, mehr Beachtung fanden sie auf jeden Fall. Stoff für Generationenfragen gaben sie auf jeden Fall her. Erst verstand die Nachkriegsgeneration ihre Eltern nicht, jetzt verstehen sie ihre Kinder nicht mehr. Was war los?

Erklärungsversuche

Die Kinder hatten nun auf einmal eines: Zeit. Vielleicht haben wir heute sogar mehr Zeit als die 68er Kinder, aber heute hat man das Gefühl wenig Zeit zu haben. Das war damals anders. Es bestand kein Grund zu hetzen. Es gab keine Smartphones, kein Internet, nicht einmal Fernsehen Nonstop und keinen Blick auf die Karriere, die einen dazu bewog, sich schon als 13-Jähriger um Praktika in den großen Ferien zu bewerben. Man wollte nicht kollektiv perfekt werden, die Angst zu versagen war noch nicht da. Aber oft Angst, Grübelei.

Für viele Kinder dieser Generation war sicher viel Zeit zum Nachdenken da. Das war gut, aber auch neu. Gegen die Eltern brauchte man nicht mehr zu kämpfen, nur noch aus persönlichen Gründen, aber ein Problem war auch, man konnte nicht kämpfen. Die Eltern hatten jede Menge Verständnis für ihre Kinder, zugleich war dies die erste Generation, die das neue Verhältnis von Mann und Frau (nach den Künstlern) in die Realität umsetzten. Die Vaterrolle war in den meisten Fällen weniger dominant, ein Nachlassen der ödipalen Konstellation war inklusive, damit aber auch ein Wegfallen des Schutzes vor anderen außerfamiliären Einflüssen. Es war mehr Offenheit, aber weniger Struktur da.

Viele 68er Eltern (vielleicht noch eher die Väter) stammen aus einer Zeit in der sie den Zweiten Weltkrieg noch miterleben und verarbeiten mussten – als Kind. Wir können verstehen, dass Menschen vollkommen traumatisiert aus dem Krieg zurück kehrten, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es für die gebrochenen Seelen die Entsetzliches erlebt haben müssen den Begriff der Kriegszitterer, die wir heute als schwere posttraumatische Belastungsstörung verstehen.

Eigenartigerweise prägten Kriegszitterer nicht das Bild nach dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht kompensierten die Soldaten anders, in jenen Jahren. Die Kinder, die Krieg erlebten konnten ihn nicht begreifen, sie waren nicht an der Front, aber in Luftschutzbunkern, die hörten das allabendliche Heulen der Sirenen, sie sahen Tote, Zerstörung, hörten Bomben. Eines der probaten Mittel, wenn man einer Situation psychisch nicht gewachsen ist, ist die Abspaltung. Wenn etwas abgespalten ist, ist es erst mal weg, dann gibt es zunächst auch kein Problem mehr. Wir stellten den Mechanismus in Ich-Schwäche ausführlicher vor.

Der Preis ist eine Einbuße der Empfindungsfähigkeit, der Empathie. Man funktioniert gut genug, um seinen Job zu machen, manchmal auch, um eine Familie zu gründen, doch wer nie erfahren hat, als Kind nach den eigenen Bedürfnissen gefragt zu werden, einfach weil keine Möglichkeit war, diesen gerecht zu werden und es Priorität hatte, das Überleben sichern, der wird das kaum weitergeben können. Eine Zeit in der Kinder mit abwesenden Vätern groß wurden, zum einen solche, die real im Krieg starben oder in Gefangenschaft gerieten, doch auch im übertragenen Sinne die Kinder jener Eltern, die traumatisiert waren, oder in dieser Zeit Kinder waren und selbst traumatischen oder chronisch aggressiven Bedingungen ausgesetzt waren.

Im Grunde muss man den Hut davor ziehen, wie diese Menschen das Land wieder aufbauten und einfach weiter machten und vor ihren Kindern dafür, wie mutig und offensiv sie die Wunden angingen. Doch selten – und das wird erst heute klarer – konnten sie ihr eigenes Leid verarbeiten. Doch verdrängtes oder verleugnetes Leid ist nicht aus der Welt und auf einmal steht die nächste Generation, die Kinder der 68er in dieser äußerlich heilen Welt, oft genug vor einem psychischen Trümmerhaufen, der nur oberflächlich weggeräumt wurde.

Vielleicht war es der Druck stiller Erwartungen, vielleicht ein dauerndes Gefühl latenter Spannungen in der Familie, die die Kinder mitbekamen und ihrerseits nicht verarbeiten konnten. Durch die geschwächten oder abwesenden Väter fiel aber nun eine innere Schutzfunktion weg, die psychische Struktur ausgerechnet dieser Kinder war schwächer. Sicher nicht aller, aber doch in einem Ausmaß, dass die Diskrepanz erklärt, dass Kinder und Heranwachsende Schwierigkeiten haben in der besten Welt seit langen Jahrzehnten Fuß zu fassen. Wie ein Staffelstab werden die Probleme, wenn sie unbearbeitet sind, von Generation zu Generation weiter gegeben, die Folge ist ein Aufblühen schwerer Persönlichkeitsstörungen, bei denen ebenfalls umstritten ist, ob sie tatsächlich zugenommen haben oder nur stärker bemerkt wurden, denn das Bewusstsein um die Bedeutung dieser Gruppe psychischer Erkrankungen kam just zu jener Zeit langam den Forschern in den Sinn, in der die Kinder der 68er groß wurden.

Natürlich war es keinesfalls zwingend, dass es Probleme geben musste und selbst, wenn es welche gab, das Leben ging weiter, neue Generationen wuchsen heran. Bis zur Zeit der Kinder der 68er, die auch Generation X genannt wird, sind wir gekommen. Den darauffolgenden Generationen bis heute und ihren spezifischen Generationenfragen widmen wir uns im nächsten Beitrag.